Als der Junge mich fragte, ob ich Leichen ausbuddeln würde, war ich zuerst sprachlos. Denn eigentlich war es genau das, was ich gerade machte.
Es kann sein, dass man als junger Medizinstudent weniger Skrupel hat, als gesellschaftlich anerkannt. Aber das merkt man vielleicht nicht immer. Manchmal wird man dann durch eine einfache Frage darauf aufmerksam gemacht und das ist dann irgendwie peinlich. In diesem Fall war ein ca. 9-jähriger Junge, der mich darauf brachte, dass es vielleicht etwas unkonventionell war, im Hinterhof eines ganzen Häuserblocks zu buddeln und sich zu freuen, wenn man einen Schädel mit hübschen Zähnen zu Tage förderte.
Dass solche Schädel in diesem Hinterhof zu finden waren, war den alteingesessenen immer schon bekannt gewesen. Der „Alte Friedhof“ der Stadt liegt zwar etwas außerhalb des Ortskerns und wurde auch inzwischen vom „Neuen Friedhof“ abgelöst, die Alten aber erinnerten sich noch, dass sie beim Spielen in diesem Hinterhof als Kinder gelegentlich auf Knochen gestoßen waren. Die Großeltern dieser Kinder wiederum erinnerten sich daran, dass an diese Stelle mal der aller erste Friedhof der Stadt gelegen hatte. Das war jetzt, als ich buddelte, aber schon über 130 Jahre her gewesen.
Ich hatte das von meinem Vater erzählt bekommen. Er war eines der Kinder gewesen, die gelegentlich die Knochen fanden. Und als auf diesem Grundstück gebaut werden sollte, fand ich das eine gute Gelegenheit, mich als Grabräuber zu betätigen. Ich überredete einen nicht weniger abenteuerlustigen Freund mir dabei zu helfen. Wir studierten alte Karten, auf denen die Gräber eingezeichnet waren, rechneten die damals verwendete Maßeinheit in Meter um und schritten den Hinterhof ab um Maß zu nehmen. Leider war es November – es war kalt und wurde schnell dunkel. Das erste Loch wurde großzügig angelegt. Wir waren uns unserer Berechnung nicht wirklich sicher und wollten nicht vorbei buddeln. Nach ungefähr eineinhalb Metern verfärbte sich der Sandboden plötzlich schwarz. Das war ein ehemaliger Sarg, der zu Erde zerfallen war. Zwei Schaufelaushübe später machte es „klock“ und mein Freund stand plötzlich neben dem Loch. Gerade hatte er noch mit mir gebuddelt. Aus dem Stand war er aus der Grube gesprungen und neben dem Erdhaufen gelandet, den wir angesammelt hatten.
Ich beugte mich hinunter und wischte mit dem Handschuh die Erde von dem Hohlkörper, der da zu Tage kam. Es handelte sich um einen wunderschönen Schädel mit ausgeprägtem Unterbiss. Die Zähne schon etwas locker, aber noch vollständig. Vom Sandboden war der Knochen fast rostbraun geworden. An den Schädelnähten konnte man erkennen, dass es sich um einen relativ jungen Mann von ca. 18 Jahren gehandelt haben musste. Der Unterbiss war aber wirklich eindrucksvoll.
Wir buddelten im Verlaufe noch mehrere, nahezu vollständige Skelette aus. Die Schädel waren im Allgemeinen nicht in so einem guten Zustand, wie der erste. In den meisten Fällen fehlten die Zähne vollständig und waren durch eine knöcherne Kauleiste ersetzt worden oder es ragten noch zwei Eckzähne aus dem Unterkiefer. Allerdings fanden wir auch noch ein vollständiges Babyskelett. Hier handelte es sich vielmehr um eine Ansammlung von Knochenkernen, da das Skelett bei Babies noch zu einem großen Teil aus Knorpel besteht und der Überdauert die Jahre nicht so gut.
Irgendwann kam dann dieser Junge und fragte: „Buddeln Sie da Leichen aus?“. Ich weiß nicht, ob meine gestammelte Erklärung irgendwie Sinn gemacht hat, aber mit der stoischen Art, wie Sie den Norddeutschen nachgesagt wird, verzog er sich ohne ein weiteres Wort.
Ich freute mich in den nächsten Jahren an der Sammlung von Knochen und Schädeln, die ich teilweise an Kommilitonen verkaufte („Schädel zu verkaufen“ ist ein Aushang, der auch nur in der Uniklinik nicht die Staatsanwaltschaft auf den Plan ruft), teilweise vermachte ich die Reste dem Institut für Rechtsmedizin. Es ist nämlich gar nicht so einfach, menschliche Knochen wieder los zu werden. Gemeinsam mit einem Freund hatte ich den Plan entwickelt, einen der Schädel bei irgendwelchen Bauarbeiten in die Grube zu werfen und mit indianischem Kopfschmuck zu versehen, um für einen mehrmonatigen Baustopp zu sorgen. Aber das schien mir nüchtern betrachtet dann doch nicht so eine gute Idee zu sein. Schließlich hatte ich ausgezeichnetes Vergleichsmaterial bereits dem Institut für Rechtsmedizin vermacht. Und da würden die Fundstücke am Ende landen. Der dann notwendige Erklärungsaufwand war mir dann doch zu viel.
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